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Schlagwort: Jakobsweg (Seite 2 von 5)

278,9 Kilometer und große Gefühle Tag 15

Lage

  • Füße: zum letzten Mal Hirschtalgcreme und die Socken werden verbrannt
  • Pilgeraufkommen: aus allen Richtungen strömen sie nach Santiago
  • Kalorien: Caldo galego entdeckt
  • Wetter: Abschiedswetter, Regen, Nebel, Kälte
  • Stimmung: es reicht jetzt

Die Nacht war schlecht, das Abendessen auch. Carlos hat in imposanter Kochverkleidung ein fragwürdiges Menü serviert, das mir gar nicht bekommen ist. Ich glaube, das Hähnchenfleisch war schlecht. Das Hotel war schön, historisch mit einem tollen Garten. Carlos und Tanja bemüht. Ich wollte mich gerne von ihm zum Camino fahren lassen, ging aber nicht, weil er ausschlafen muss. Sie wollten mir ein Taxi bestellen, das wollte ich nicht. Ich laufe lieber drei Überkilometer zum Camino, statt einen Termin im Urlaub zu haben. Da kann ich los, wann ich möchte.

Ich fühle mich schwach auf den Beinen, mir ist übel und ich bin froh, dass es heute nur 14 Kilometer sind. Es hat in der Nacht geregnet und ich lege die Regenausrüstung zurecht. Ich bin sehr dankbar, dass ich bislang so tolles Wetter hatte. Im Nebel und in Dunkelheit loszulaufen macht echt keinen Spaß. Der Nebel dringt in die Klamotten ein, es ist nicht besonders warm.

Ich laufe die Straße entlang, ein Hund beginnt zu bellen. Galiziens Gärten sind voll mit Hunden, es ist unglaublich. Ich habe auf dem ganzen Camino niemanden mit Hunden laufen sehen. Der Hund, der so bedrohlich bellt, ist gar nicht im Garten. Er rennt auf mich zu. Ich rede beruhigend auf ihn ein und er dreht ab. Geschafft, denke ich. Ich laufe am nächsten Haus vorbei und der nächste Hund bellt. Der freilaufende Hund kommt zur Unterstützung des Gartenhunds und lässt mich nicht am Haus vorbei. Er knurrt bedrohlich, bellt wie wahnsinnig.

Ich gebe auf. Ich denke, dunkel, kalt, neblig und auch noch dieses Biest. Ich lass mich doch von dem nicht in den Hintern beißen. Und das alles ohne Frühstück. Der Camino kann mich mal. Das wäre ein Abschluß. Letzte Etappe wegen Hundehinternbiß abgebrochen. Ich drehe um und gehe zum Hotel zurück. Carlos soll mir ein Taxi rufen, wenn sein Biorhythmus das zu lässt.

Im Hotel sind einige Pilger. Mit einer Gruppe Engländerinnen habe ich gestern am Pool gelegen. Sie sind auch schon auf den Beinen. Mary aus Oxfordshire, fährt Cathrine aus London zum Camino. Ob ich mitwolle? Ich freue mich so, umarme sie und erzähle von meinem Hundeabenteuer. Mary bietet sogar an, meinen Rucksack nach Santiago zu fahren, ich müsste ihn halt in ihrem Hotel abholen. Da kommt die Pilgerehre durch, ich werde meinen Rucksack doch auch die letzten Meter tragen können. Mary hat auch Bauchweh vom Abendessen.

Schon sieht die Welt besser aus. Den gloriosen letzten Tag, mit Auftritt auf dem rotem Teppich in Santiago vor der Kathedrale, habe ich mir wahrlich anders vorgestellt.

Mary, Cathrine, Rose und Stacey wollten alle gemeinsam den Camino von Tui aus in einer Woche laufen. Die erste musste im Vorfeld auf das Auto umsteigen, weil sie eine Fußoperation hatte. Die Zweite kam in Tui an und fand, das sei doch nichts für sie. Die Dritte bekam einen Virus und musste nach zwei Tagen aufgeben. Übrig bleibt Cathrine, sie ist jeden Tag gelaufen. Mein Glück!

Wir finden den Einstieg in den Camino schnell. Diese Pilgersilhouetten werden mir fehlen. Ruhig ziehen sie in der Ferne vorbei, Rucksack, Stock und Hut. Cathrine ist ganz nervös. Sie will laufen, wie ein junges Pferd rennt sie los. Trotz meiner wackligen Beine, freue ich mich auf die letzte Etappe und genieße jeden Schritt.

So laufe ich heute erstmalig ohne Hochgefühl los. Ich habe Kopfschmerzen und Bauchweh von Carlos Huhn. Das Wetter ist schlecht, ab morgen ist Dauerregen angesagt. Was hatte ich für ein Glück. Den Camino im Regen zu laufen macht sicher gar keinen Spaß.

Die Strecke ist nicht besonders schön. Der Weg geht an der Autobahn entlang, über sie drüber, unter Schnellstraßen durch, die Karawane zieht unverdrossen vorbei. Alle in Regenjacken und Rucksackschutz.

Es geht mal wieder den Berg hoch. Oben steht ein Pilger im historischen Kostüm, der mich sicher gleich fragt, woher ich komme. Ist sicher vom Tourismusbüro und macht eine Statistik.

Ist er nicht. Er wirbt für das Café Camino in dem es eine nahrhafte Suppe Caldo Galego geben soll. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, biege ab und gehe frühstücken. Im Café sitzt schon eine Pilgerin ohne Schuhe in Strümpfen. Läuft sie so in Santiago ein? Der Wirt verspricht mir, dass die Suppe mir Kraft geben wird und in der Tat ist sie für meinen flauen Magen genau das Richtige. Ich bekomme wieder genau das, was ich brauche.

Der Weg wird städtisch, bald bin ich da, denke ich. Es sind jedoch immer noch sechs Kilometer.

Es wird wieder ländlicher und ganz unscheinbar beginnt Santiago da Compostela.

Die Beschriftung hört plötzlich auf, es gibt keine gelben Pfeile mehr. Viele Pilger, auch Junge, haben Kniebandagen, humpeln in ihren Schuhen, laufen in Trekkingsandalen mit dreckigen Socken. Plötzlich ist großer Pilgerauflauf auf der Straße. Ein Notfall, ein Pilger liegt auf dem Boden, ein junger Mann, sehe ich aus den Augenwinkeln. Der Notarzt ist schon gerufen, Ärzte sind schon da. Ich gehe, weiter, will nicht so neugierig sein.

Ich laufe die letzten Meter sehr dankbar. Ich danke meinem Körper, dass er den Camino so gut bewältigt hat. Ich humple nicht, mir tut nichts weh, ich bin nur müde. Dieser Körper, der vor nicht langer Zeit so krank war. Unglaublich.

Auch ohne gelbe Pfeile kann man sich nicht verlaufen. Die ganze Stadt ist auf die Kathedrale ausgerichtet. In den Gassen der Altstadt ist schon ein Turm zu sehen und schon stehe ich vor dem Portal mit vielen anderen Pilgern auch. Wow, diese Architektur wirkt.

Ich werde doch hier nicht weinen, ich bin doch nur hergelaufen. Ich setze mich müde auf eine Bank und bin überwältigt, ich kann es nicht zurückhalten. Ich bebe, weine und denke: wow, ich habe das wirklich geschafft, ich habe das echt durchgezogen.

Eine Pilgerin winkt mir, es ist Stephanie. Wir umarmen uns und gratulieren uns gegenseitig. Steve aus Montana sucht eine Busverbindung, sie steht da und wartet auf ihre Compostela, die Pilgerurkunde aus dem Pilgerbüro.

Ich frage sie, was einen denn da so umhauen würde. Sie hat das schon zum zweiten Mal erlebt. Nun, sagt sie, sie könne nur für sich sprechen, man hatte ein Ziel auf das man zugearbeitet hat. Man hat es erreicht und ist sehr stolz drauf, weil man etwas Großes geleistet hat. Es ist aber mit der Ankunft vor der Kathedrale vorbei und man muss Abschied nehmen. Abschied vom Ziel und von den vielen Pilgern mit denen man eine coole Zeit hatte. Und man sei einfach auch müde. Stimmt.

Sie erzählt von ihrem Busausflug nach Finesterre, dem Ort am Meer hinter Santiago, von dem man im Mittelalter meinte, die Welt höre auf.

Ich möchte in die Kathedrale, ich habe einen Auftrag zu erledigen. Mit Rucksack darf man aber nicht rein. Also gehe ich zum Hotel und lege ihn ab. Wieder zurück, stelle ich mich in der Kathedrale in die Schlange. Ich umarme die Statue des Apostels von hinten und wünsche mir und Antonio ein langes und gesundes Leben. Zur Sicherheit zünde ich noch zwei Kerzen an und bitte um noch mehr Gesundheit.

Ich gehe in der Altstadt überteuerte Spaghetti essen und denke, jetzt ist es Zeit für´s Hotel. Lee aus Porto schickt ein Gruppenbild. Auch er, Peter, Kathrin und die zwei Brasilianerinnen sind heute angekommen. Auf dem großen Platz ist Jahrmarktstimmung. Eine große philippinische Familie feiert ausgelassen ihre Ankunft. Sie sind im Familienshirt gepilgert. Ich staune und laufe direkt in Beverly und Hugh, sie sind eben angekommen. Die beiden sind doch tatsächlich die Etappe von Padron nach Santiago in einem Rutsch gelaufen. Beverly verzeichnet 27 Kilometer auf ihrer App. Unglaublich die zwei. Wir herzen und feiern uns. Sie nehmen mich in die Mitte, like our daughter, lassen uns ablichten.

Die beiden gehen mit anderen Australiern in das nobelste Hotel der Stadt, mit der nobelsten Bar der Stadt und laden mich zum Drink ein. Das Parador de Santiago dos Reis Catolicos hätte mich für 560,-€ für zwei Nächte beherbergt.

Ich winke ab, mein Kopf pocht, ich bin so erschlagen, ich möchte nur noch ins Hotel.

Buenes Noches aus Santiago die Compostela. Ich habe es wirklich geschafft.

May I ask, what is your Inspiration for the camino?

Das ist,die am meisten gestellte Frage, neben, where do you come from. Es wird Zeit, mich dieser Frage zu stellen. Heute steht die letzte Etappe bevor, Santiago ich komme.

Schon vor zwanzig Jahren, hat mich ein Kollege, nennen wir ihn Andreas, inspiriert, den Jakobsweg zu laufen. Es war sein großer Lebenstraum und er hat dauernd davon gesprochen. Damals war mir das alles noch viel zu katholisch, er war sehr religiös motiviert. In den Mittagspausen haben wir Karten studiert, er hat mir erzählt, wie er seinen Rucksack packen möchte. Die Trekkinghosen, die durch Reißverschluß in kurz und in lang zu variieren sind, wurden damals erfunden. Er war begeistert, die ideale Hose für den Camino. Als er dann endlich seinen lange ersehnten Vorruhestand erreicht hat, ist er sofort los. Er ist den Camino Frances gelaufen und kam als völlig Anderer wieder. Er hat sich von seinem alten Leben getrennt, von Frau, Freunden, Scheibchenvilla, vermeintlich von einem Tag auf den anderen. Der Jakobsweg war für ihn ein Synonym für einen Ausbruch und Neustart. Er fand auf dem Camino Frances eine neue Lebenspartnerin, die sich wiederum von ihrem Partner trennte. Wenig danach hatte er einen schweren Fahrradunfall und ich habe den Kontakt leider verloren.

Seit dieser Zeit ist der Jakobsweg in meinem Kopf. Immer mal wieder. Als ich dann vom Camino Portugues hörte, war klar, das ist ein guter Einstieg ins Pilgern. Es sind übersichtliche 260 Kilometer und Portugal kenne ich sehr gut. Meine Krebserkrankung vor einigen Jahren spielt sicher auch eine Rolle. Habe ich doch gelernt, dass man seine Zeit gut nutzen muss und Wünsche erfüllen, so man die Möglichkeit dazu hat. Wer weiß schon, wieviel Zeit noch bleibt?

Wonach suche ich?

Ich suche nach Stille, nach alleine sein. Kann ich mit mir gut zurechtkommen?

Ich möchte wissen, wie es ist, mit wenigen Dingen zu reisen. Alles was man braucht, trägt man auf dem Rücken.

Ich möchte die Wirkungen des Laufens erfahren. Kann ich jeden Tag so viele Kilometer laufen? Wie wirkt sich das aus?

Ich suche die Schönheit der Natur. An der portugiesischen Küste zu laufen, muss wundervoll sein.

Mit meiner Krebsdiagnose habe ich eine wichtige Lektion gelernt. Man weiß das alles als reflektierter Mensch auch schon vorher, aber wenn man eine lebensbedrohliche Krankheit durchlebt, erfährt man das auch emotional. Man kann es nicht nur denken, man fühlt es auch.

Alles Materielle hilft dir nichts, es ist im Angesicht des Todes unwichtig. Es ist schön, alles genießen zu können, keine Frage, es macht das Leben viel angenehmer. Der Rückschluss ist für mich auch nicht, nichts mehr besitzen zu wollen, es geht um die Einordnung, den Stellenwert und die Frage was und wieviel ich wirklich brauche. Was dich wirklich durch das Leben trägt, vielleicht auch durch den Tod, ist die Liebe. Menschliche Beziehungen. Partner, Familie, Freunde.

Ich habe noch in der Chemotherapie begonnen, das Haus von oben bis unten auszumisten. Raum für Raum. Schrank für Schrank. Schublade für Schublade. Ordnungsexperten sagen, dass man sich mit äußerer Ordnung auch eine innere Ordnung herstellt. So habe ich für mich die äußere Welt aufgeräumt. Wahrscheinlich auch die Innere, der Camino mag nur eine Fortsetzung davon sein.

Mit meinen Ayurvedakuren (das ist ein extra Blog wert) habe ich begonnen, meinen Körper aufzuräumen.

Und nun ist die Seele dran. Und ich muss sagen, dazu eignet sich das Laufen und der Camino sehr. Ich habe Gedanken und Emotionen sortiert, Kisten gepackt und vieles ohne Gram weggeworfen. Losgelassen und neu begrüßt.

Braucht man dazu einen Camino?

Ich glaube nicht, es gibt sicher auch andere Techniken dafür. Meditation, Hypnose, Laufen kann man immer. Gespräche, jeder kann seinen Camino finden.

Was den Camino so besonders macht, ist die Spiritualität, die von ihm ausgeht. Die Pilgergeschichte. Die Religion. Und die vielen Menschen mit denen man in Kontakt kommt, die ebenfalls suchen oder Fragen stellen. Die vielen intensiven Gespräche, die ich so gar nicht erwartet habe. Die magischen Orte, wie z.B. der Santiaguino do Monte, die auf einen wirken.

Und ja, ich kann gut mit mir alleine sein. Ich kann zwei Wochen problemlos mit dem Inhalt meines Rucksacks zurechtkommen. Und laufen ist Meditation. Und wir können mehr als wir glauben.

Man ist für eine Weile in einer besonderen und geschützten Umgebung und trifft auf so viel Güte und Verständnis. Man ist nur Pilger, sonst nichts, läuft diesen gelben Pfeilen nach und darf sich nur mit sich selbst beschäftigen. Was für eine gesegnete Zeit. Was für ein Luxus. Alles, woran man sonst gemessen wird, ist hier unbedeutend.

Heute geht es nach Santiago. Ich bin sehr gespannt, wie diese Kathedrale und das Ziel auf mich wirkt.

Steve aus Montana hat ganz von innen raus gestrahlt und gesagt: „I found, what I was looking for. I was looking for Goodness and I found it.“

Let´s see, was der Tag mir bringt.

Buon Camino.

Das Geschäft mit dem Camino

Der Camino hat viele Facetten, natürlich auch eine Wirtschaftliche. Letztes Jahr waren es um die 80 000 Pilger, die von Porto aus nach Santiago gepilgert sind. Dazu braucht es eine Infrastruktur, die Pilger müssen versorgt, untergebracht und geleitet werden. Bei allem wirtschaftlichen Interesse, die an uns Pilgern unweigerlich bestehen, fühlt man sich auf diesem Camino immer willkommen. Alle sind hilfsbereit und fast schon fürsorglich.

Ob das die Musikerin ist, die im Park „gratis“ Stempel und Musik verteilt. Sie hatte natürlich eine Spendenbox aufgestellt.

Oder die Versorgungsstationen, wo der hungrige und durstige Pilger sich ausstatten kann.

Ich glaube, das beste Geschäft machen die Taxiunternehmen. Zufällig finden sich an besonders anspruchsvollen Strecken kleine Werbeplakate. Ich habe viele erhitzte Pilger in Taxis steigen sehen.

Die Tourismusindustrie hat maßgeschneiderte Angebote für den Urlauber entwickelt. Hotels und Etappen sind vorgebucht, das Gepäck, wird transportiert und der Pilger muss nur wandern, bzw. dem Guide hinterhergehen.

Viele geschäftstüchtige Galizier, die am Weg wohnen, haben ihre Garagen ausgeräumt und zu Cafés umfunktioniert. In ehemaligen Wohnzimmern werden Jakobspilgermuscheln verkauft.

Der Geist, oder die Stimmung auf dem Camino bleibt erhalten, da ändern auch rasende Radpilger nichts daran.

Auf meinem ganzen Weg, hatte ich nur eine Situation, bei der ich dachte: alles nur ein Geschäft. Ich kam aus meinem Hotel, in dem ich nachts fast vom Zug überfahren wurde. Beim Einstieg in den Camino war ein provisorisches Café aufgebaut. Die Dame bot Kaffee und Stempel und allerhand Kram an. Ich fragte sie nach einem Stempel, weil ich das so kurios fand und bekam ein sehr barsches „Customers only“ zu hören.

Es ist doch für alle eine wunderbare Win-Win-Situation, wie der angehende Ökonom Jonathan sagen würde. Wenn dabei noch ein so leckeres Pilgerinnenbier dabei heraus kommt, ist doch allen geholfen.

Salud!

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