Ich war in Berlin in einer Spezialbuchhandlung für Reiseführer und Karthographie. An Pfingsten habe ich in Lissabon alle Buchhandlungen abgeklappert. Ich habe das Internet rauf und runter gesucht. Nada. Es gibt keine Wanderkarten von Portugal. An einem Sonntag bei schönstem Wetter, wo man eigentlich in der Nagold schwimmen sollte, bin ich die Strecke in Google Maps abgelaufen. Die Erkenntnis daraus? Ich sollte in meinem fortgeschrittenen Alter endlich lernen, die Dinge auf mich zukommen zu lassen. Das Leben lässt sich nicht bis ins letzte Detail durchplanen. Es kommt sowieso immer anders.
Der Camino ist überall gut ausgeschildert, verlaufen ist fast unmöglich. Man braucht überhaupt keine Karten.
Zum Frühstück mache ich mich schick und ziehe mein feinstes Oberteil (blaue Outdoorbluse) und meine Ausgehschuhe (Flip Flops) an. Die Nacht war unruhig. Ich bin romantisch bei offener Tür im fünften Stock mit Meeresrauschen eingeschlafen. Um drei habe ich die Tür zugemacht, weil der Krach nicht auszuhalten war. Wie laut der Atlantik sein kann.
Ich habe die ganze Zeit überlegt, wie ich zurück zum Camino finde. Als ich am Fenster sitze, zieht ein Pilger nach dem anderen vorbei. Ich bin in einem Hotel direkt am Camino und habe es nicht mal gemerkt.
Siehe Pilger rechts oben auf dem Weg
Der Weg geht direkt am Meer weiter. Es ist kühl und neblig. Das ist besseres Wanderwetter als die Tage davor, da war es schon sehr heiß für mich. Ich treffe auf das Vater und Sohn Duo, sie sind hinter mir, das möchte ich hier mal betonen. Die beiden übernachteten ebenfalls auf dem Campingplatz
und sehen beide sehr fit und durchtrainiert aus. Und jetzt sind sie hiiiiiiiinteeeeeer mir! Deutsche, nicht sehr gesprächig.
Vous avez l´heure, moi j´ai le temps.
Beschriftung auf einem ziemlich ollen Campingbus
Sie haben die Uhr, ich habe die Zeit, steht da auf einem schrottreifen Campingbus aus Frankreich. Ich hänge meinen Gedanken nach und sinniere, ob ich nun die Uhr, die Zeit oder und beides habe. Komme zu keinem Ergebnis. Meine Uhren habe ich alle weggegeben, weil ich sie im Handyzeitalter nicht mehr trage. Aber ich glaube, um das geht es hier gar nicht.
Vor mir geht ein alter Mann mit kleinen Tippelschritten auf den Holzbohlen des Caminos. Es ist der Gang der Dementen. Ich gehe an ihm vorbei und grüße ihn freundlich mit Buon Dia. Er freut sich riesig. Ich trödle mal wieder, mache Bilder, schaue mir ausgiebig den Pferdewagen an, auf den frisch geerntete Zwiebeln geladen werden. Er überholt mich und ich überhole ihn wieder. Erneut grüße ich mit Buon Dia und er freut sich nochmal. Ich bleibe stehen und fotografiere, er überholt mich, Buon Dia, er freut sich. So geht das sicher fünf mal und wir haben beide unsere Freude daran. Ich denke an meinen Vater, dessen Kurzzeitgedächtnis auch nicht mehr funktioniert hat.
Der Weg wird ländlicher, das Strandleben weniger und es gibt keine Bars oder Einkaufsmöglichkeiten. Gut, dass ich mir beim Frühstück was eingepackt habe. Hier ist die Zeit stehen geblieben, es ist das Portugal, das ich vor 30 Jahren kennengelernt habe. Die Männer mit ihren Schiebermützen sehen noch genau so aus. Die sind nachgewachsen. Ich mache ein Bild am Strand und einer überprüft ungläubig meine Perspektive. Was ist hier schon wert, fotografiert zu werden?
Vor mir geht eine Portugiesin in Schwarz, der Farbe der Witwen. Sie trägt einen Schurz und sieht geschäftig aus. Bei dem Schritt, den sie draufhat, merke ich, dass sie einen flotten Spaziergang macht. Getarnt in Arbeitsklamotten. Das ist ein sehr schwäbisches Verhalten, das bei uns auf dem Dorf noch heute seine Gültigkeit hat. Sonst meinen ja die Leute, man hätte nichts zu tun.
Heute sind sehr viele Pilger unterwegs. Australier, Kanadier, Italiener und Deutsche. Eine Weile laufe ich mit jungen Italienern, zwei Medizinern und einer Sprachlehrerin, die in Madrid unterrichtet. Sie fragen mich, wann ich den „immer“ so loslaufe. Sie fallen fast um, als ich ihnen meine Uhrzeit, zwischen sieben und acht Uhr, sage. Das sei ihnen viel zu früh. Gestern sind sie um 11 los. An den Klischees der Nationen scheint wirklich was dran zu sein.
Pilgeraufkommen nach Nationen, empirisch gesichert, absteigend aufgelistet
Deutsche
Australier
Italiener
Kanadier
Freundlichkeit und Offenheit der Pilger, empirisch gesichert, absteigend aufgelistet
Australier
Italiener
Kanadier
Deutsche
Outfit und Präsentation der Pilger, empirisch gesichert, absteigend aufgelistet
Italiener
Platz nicht vergeben
Platz nicht vergeben
Australier, Kanadier, Deutsche
Der Weg führt durch landwirtschaftliche Betriebe: Kohl, Salat, Bohnen, Tomaten. Es ist Ernte und ich würde am liebsten mit pflücken. Eine Portugiesin kämpft mit einem Schubkarren voller Kohl, den sie den Berg hinaufzieht. Ich packe mit an und schiebe ihr den Schubkarren ganz hoch. Ich bin so voller Tatendrang und Hilfsbereitschaft, ob sie das nun will oder nicht. Sie quasselt auf mich ein, bedankt sich und ich glaube, sie hat mir auch gesagt, dass der Schubkarren nicht so weit hoch soll. Als ich weitergehe, schiebt sie ihn wieder runter.
Ich lande in einem sehr nachhaltigen Hotel. Das muss seit mindestens vierzig Jahren nicht renoviert worden sein. Bei meinem Zimmer lässt sich die Balkontüre nicht abschließen. Die Dame an der der Rezeption versichert mir, dass hier nichts passieren würde, sollte ich dennoch vergewaltigt werden, würde sie den Vergewaltiger eigenhändig umbringen. Mir bleibt der Mund offen. Beverly aus Australien, die auch wieder in dem Hotel ist, sagt der Dame, das sei ja sehr tröstlich und erwägenswert. Ich bedanke mich bei ihr, dass sie die Antwort übernommen hat, ich war nämlich tatsächlich sprachlos.
Ich ziehe es dennoch vor, umzuziehen. Das neue Zimmer ist ein klitzekleines bisschen weniger scheußlich als das Vorherige und lässt sich zum Balkon abschließen. Dafür ist das Schloss der Zimmertür kaputt. Immerhin gibt es eine Türkette. Ich erwäge bei Beverly und Hugh im Gräbele zu schlafen.
Man kann es kaum glauben, aber ich habe in diesem Tiny House in meinem Hochbett, auf einer Plastikmatratze, wunderbar geschlafen. Wir fünf haben uns zum nächtlichen Pinkeln verabredet. Ältere Herrschaften können ja, ohne mindestens einen Toilettengang in der Nacht, nicht mehr durchschlafen. Und wenn ich eines beim Campen nicht leiden kann, dann sind es die, nach dem Gesetz der größten Gemeinheit, weit entfernten sanitären Anlagen. Wir haben uns also zum Pinkeln verabredet, damit die nächtliche Bettruhe für alle nur übersichtlich gestört wird. Die Taschenlampe lag bereit und ich habe das Spektakel verschlafen! Das hätte ich gerne gesehen. Bei der Vorstellung des kollektiven nächtlichen Wasserlassens muss ich jetzt noch lachen. Sie müssen sehr leise gewesen sein, um mich nicht zu wecken.
Ich wache also einigermaßen pünktlich um 5.30 auf. Mein Plan: mich schnell vom Acker machen. Jutta und Marita sind zwei sehr nette Damen ohne Fremdsprachenkenntnisse und haben sich an meine Versen geheftet. Beim Abendessen musste ich alles übersetzen, an der Rezeption für sie nach dem Weg zum klassischen Jakobsweg im Landesinneren fragen und die Bestellung aufgeben. Mein Plan geht nicht auf, die zwei entwickeln eine enorme Geschwindigkeit beim Packen, sie sind so übereifrig, dass sie sogar meinen Caminoführer einpacken. Nach einem herzlichen Abschied von unseren Australiern, wackeln wir gemeinsam los und ich überlege, wie ich das regle, dass ich nicht zum Wander- und Reiseführer der beiden mutiere. Mir ist es nach alleine sein. Gedanken sortieren. Ich navigiere zum Jakobweg und wir laufen in der Morgendämmerung am Meer. Der Camino hat für meine Gedanken wieder eine Antwort. Ich bin den beiden zu langsam und sie verabschieden sich, weil sie vorlegen wollen. Gestern schon sind sie an mir vorbeigezogen, Jutta hat dann Kreislaufprobleme bekommen und Marita ist auf ihr Knie gefallen und ich war letztendlich vor ihnen auf dem Campingplatz.
So habe ich den Morgen für mich alleine. Der Küstenabschnitt von Praia de Angeiras nach Vila do Conde ist unbeschreiblich schön, es erinnert mich an Sylt.
Vila Cha ist ein kleines wunderschönes Fischerdorf, da hätte ich gestern gerne den Abend verbracht und übernachtet. Warum ist es so schön? Weil es da keine Bettenburgen, sondern noch Fischer gibt. Got it?
Vor Vila do Conde sehe ich den Abzweig zum klassischen Camino nach Rates und bin in Gedanken bei Jutta und Marita. Hier trennen sich unsere Wege endgültig. Ich schaue, rieche, höre und sehe. Bin dabei so langsam, dass mich sogar Beverly und Hugh überholen. Naja, die haben ja auch nur eine Flasche Wasser im Rucksack, tröste ich mich. Sie nutzen einen Gepäckservice.
Bei Kilometer zehn ist es bereits zehn Uhr, Zeit für ein Frühstück. Am Meer findet sich ein schönes Café, das ich anvisiere. Ich traue meinen Augen nicht, Jutta und Marita sitzen auf der Terasse und trinken Kaffee. Abzweig verpasst. So ist das, wenn man hektisch den Camino rennt. Man verpasst die wichtigen Weggabelungen.
In Vila do Conde sitze ich in einer Kirche und denke an meinen Vater. Zuhause ist die Familie auch in der Kirche versammelt. Es ist Tradition, dass am Sonntag, der auf die Beerdigung folgt, die Verstorbenen nochmal geehrt werden.
Vila do Conde
Ich schleiche den Wegweisern zum Camino nach. Von hinten höre ich eine Gruppe Deutscher laut palavernd näher kommen. Plötzlich ist ein Pilger auf meiner Höhe, als erstes sticht sein Bauch mir ins Auge. Er fragt mich: „Na, wie geht es? Was machen die Füße?“ „Geht so“, sage ich, es ist inzwischen 11 Uhr und ich habe immer noch nichts gefrühstückt. „Wie lange bist du schon unterwegs?“ fragt er überheblich. „Erst seit gestern“ meine Antwort. „Wir auch“, poltert er, „streng dich halt mal ein bisschen an……“ Die restlichen Worte vermengen sich zu einem Wortbrei. Was bildet dieser Mensch sich ein? Kennt mich überhaupt nicht und haut gleich mal so eine Belehrung raus. Sind ja auch Lehrer, sie haben sich lauthals über ihre Schüler unterhalten. Ich sage einfach nur Tschüss, biege ab ins nächste Café und dieser Trottel folgt mir auch noch, bis ihn die seinen auf den richtigen Weg zurückpfeifen.
Gestärkt gehe ich weiter, bin gedanklich aber noch beim unverschämten Lehrer. In Povoa do Varzim parkt eine Frau mittleren Alters an der Straße ein und bedeutet mir, anzuhalten und zu warten. Sie nestelt in ihrem Kofferraum herum und drückt mir eine Tüte mit Yoghurt, Bananen und einem süßen Teilchen in die Hand, wünscht der verdutzten und gerührten Pilgerin einen Buon Camino und freut sich. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, der entzückenden Portugiesin einen Vortrag über die richtige Ernährung nach Krebs zu halten, so von wegen, wenig Weißmehl und Zucker, es ist mir auch völlig egal. Ich freue mich einfach und bin total gerührt. Küsschen rechts, Küsschen links, muito obridada, que linda und ich laufe verdutzt weiter.
Bei der Analyse des Vorfalls, wird es mir langsam unheimlich. Ich frage und der Camino antwortet. Noch ganz der blöden deutsch-deutschen Begegnung nachhängend, kommt schon die Anwort. Ja, es gibt solche Deppen, aber schau wieviel gütige, freundliche Menschen auf deinem Weg sind. Orientiere dich an ihnen!
In Povoa da Varzim suche ich mir ein schönes vier Sterne Hotel am Meer mit Pool aus. Ich gönne mir ein Zimmer mit Meerblick. Als verschwitzter Pilger in ein Hotelfoyer einzulaufen, hat schon was.
Entspannt schwimme ich im Pool, sitze am Meer und esse mein Pilgervesper und beschließe den Tag mit einem Drink, der soviel kostet, wie gestern das Pilgermenü auf dem Campingplatz.