Lage
- Füße: keine Blasen, müde
- Pilgeraufkommen: hoch
- Kalorien: tagsüber übersichtlich, Abends Trostessen
- Wetter: windig, Wechsel von kalt und warm
- Stimmung: morgens immer euphorisch, wechselt tagsüber, bei Kilometer 20,8 am Tiefpunkt
„I love you doing the Camino with your pearl earrings“, kann man morgens schöner begrüßt werden? Beverly lächelt mir warmherzig zu. Wir frühstücken gemeinsam in einem spärlich beleuchteten Frühstücksraum, der an Scheußlichkeit kaum zu überbieten ist. Egal, ich habe die Nacht gut überstanden, bin weder umgebracht noch vergewaltigt worden und habe sogar verschlafen. Ich bin doch tatsächlich erst um sieben Uhr aufgewacht. Für einen Pilger viel zu spät! Zumindest für einen deutschen Pilger.
Heute habe ich 24 Kilometer bis Viana do Castelo vor mir. Ich habe mir schon mal vorsorglich eine Buslinie von Anha nach Viana rausgesucht. Bei Kilometer 18 bin ich meist im Eimer. Ich muss ja gar nichts. Ich kann mir jederzeit ein Taxi nehmen oder mit dem Bus fahren.
Der Weg beginnt am Meer, ich steige beim Luxushotel ein, wo ich gestern am Pool geschwommen bin.
Es ist etwas peinlich, aber heute, am vierten Tag, habe ich endlich raus, wie der Rucksack am besten sitzt und mir keine Probleme mehr macht. Ich laufe leicht los.
Ich schlendere durch ein beschauliches Dorf. Radpilger zischen an mir vorbei. Ich hole einen alten, schlurfenden Portugiesen ein. Ich spüre sofort eine Verbindung. Er spricht mich an. Es ist Antonio.

Er spricht im besten, gewähltesten Englisch, was ich wahrlich nicht vermutet hätte. Antonio ist katholischer Priester und Missionar im Ruhestand. War in München, Afrika und Kalifornien im Einsatz. 30 Jahre lang hat er zwischen Los Angeles und San Diego Kirchengemeinden betreut. Jetzt ist er im Ruhestand. Er fragt mich aus, will alles wissen. Ob ich alleine laufe? Verheiratet bin, Kinder habe? Was ich arbeite? Ob ich viel reise? Ob ich keine Angst habe? Das wollen alle wissen, gestern hat mich eine ältere Portugiesin gefragt. Nein, habe ich nicht. Ich erzähle ihm, dass mein Vater gestorben ist. Er nimmt mich in den Arm. Sein Vater ist 92 geworden. „I have 9 years more to go“ Er erzählt von Messen oben auf dem Berg, bei der Wallfahrtskirche, die er gehalten hat. Ich sage ihm, dass ich mich auf die Pilgermesse (ich?) in Santiago freue. Und schon habe ich einen wichtigen Auftrag. In der Kathedrale in Santiago soll ich um den Altar herum laufen, zur Statue des Heiligen Jakobus gehen und ihn für Antonio umarmen und für ein langes Leben bitten. Also für Antonio. Mach ich für mich dann auch gleich.
Als sich unsere Wege trennen, stehen wir am Haus einer alten Dame, die im Garten werkelt. Sie ruft Antonio zu, dass er sich nicht so an mich ranschmeißen soll. Das verstehe sogar ich. Antonio erzählt mir, dass sie eine Nonne im Ruhestand ist und nun einen neuen Mann in ihrem Leben sucht. Priester und Nonne Neckereien. Antonio nimmt mich in den Arm „Good bless you, I Love you, buon camino and do the Hug for me“.
Good bless YOU, Antonio. Ich werde deinen Auftrag gerne ausführen.
Später holt mich Anka aus Transilvanien in Rumänien ein. Eine junge Frau, die von Depressionen und Ängsten erzählt. Von „the whole shit of the world“, der sie fertig macht. Sie möchte endlich wieder gütige, nette Menschen treffen und ihre Akkus auffüllen. Ihren Kopf auslüften, neuen Mut schöpfen und „if I cańt heal here on the Camino, where else?“
Ich gehe durch einen Eukalyptuswald. Es duftet wunderbar. Ich trage eine blaue Hortensienblüte mit mir herum, die ich am Wegesrand gefunden habe. Noch ein paar Eukalyptuszweige dazu, ich kann es einfach nicht lassen. Ziemlich bescheuert, Blumen mit mir zu tragen.
Allein im Wald, treffe ich auf Angelika aus Vorarlberg. Sie ist auch alleine unterwegs, findet das aber nicht toll. Ihre Freundin hat kurz vorher abgesagt. Sie wollte doch nicht ohne Beautycase in Urlaub. Sie ist ängstlich, sagt, sie finde schwer Anschluss, es wären ja alles nur Paare und ich höre heraus, dass ihre Motivation eine sportliche ist. Sie läuft deutlich mehr als ich und als ich sie dafür lobe, freut sie sich riesig. Ich interpretiere, dass sie alleine ist, stimmt aber nicht. Ihr Mann hat nur keine Lust auf den Camino. Sie wirkt niedergeschlagen.
Motivationen für den Camino:
- Persönliche Krisensituationen bewältigen
- Anworten auf Lebensfragen finden
- Sportliche Erfolge feiern
- nette Menschen treffen
- spirituelle, religiöse Erfahrungen machen
- sich auf ein einfaches Leben reduzieren
- einen Wanderurlaub in toller Natur genießen
- Teil einer Community zu sein
Wir nähern uns Anha und meine Füße sind Brei. Ich beschließe den Bus zu nehmen und die letzten sechs Kilometer zu fahren. Ich bin so stolz auf mich. Ich muss gar nichts und mir und niemandem was beweisen. Ich bin eine selbstbewusste Frau, die auf ihren Körper hört und erwachsen handelt.
Ich frage Handwerker nach der Bushaltestelle und finde sie auch. In einem Café frage ich sicherheitshalber nochmal nach. Die Bude ist voll, um 16.00 Uhr trinkt auch der Portugiese seinen Café, seinen Bica. „Anyone speaking englisch?“, frage ich und alle zeigen stumm auf den Wirt. Ich frage nach dem Bus und er zeigt um die Ecke auf die Bushaltestelle. Auf meine Frage, wann denn einer fahre sagt er, „just in one Minute“. Ich freue mich und renne mit meinem Rucksack, soweit mir das noch möglich ist, zur Haltestelle. Ich möchte den Bus ja nicht verpassen. Angelika verabschiedet sich, natürlich läuft sie munter weiter. Buon Camino.

Es läuft alles wie am Schnürchen. Ich bin froh nicht mehr weiterlaufen zu müssen, es ist inzwischen schon nach 15.00 Uhr und warm. Die Strecke war anstrengend und ziemlich bergig. Ich stehe in der prallen Sonne, es gibt kein Bänkchen, aber mit der Aussicht auf einen Sitzplatz im Bus, ist das gut auszuhalten.
Das ist aber eine verdammt lange portugiesische Minute, denke ich. Kein Bus. Ich gehe zum Fahrplan gegenüber, den ich endlich ausgemacht habe. Lasse die Haltestelle keine Minute aus den Augen, weil, ich möchte unmöglich den Bus verpassen.
Mich trifft der Schlag. Der nächste Bus soll in zwei Stunden fahren! Da hat der Wirt aber schnell mal einen Pilger verarscht. Hier in diesem Kaff nach einem Bus zu fragen ist ungefähr so, wie in unserem Tante Emma Lädchen daheim Hummer bestellen zu wollen. Kein Bus, kein Taxi weit und breit.
Ich habe mehrere Möglichkeiten:
- mich hinsetzen und vor Erschöpfung weinen
- den Wirt rund zu machen und ihn mit dem schrecklichsten portugiesischen Schimpfwort (nein, ich sage es hier nicht) das ich kenne, anzuschreien.
- weiterlaufen
Ich laufe einfach weiter, den Berg hoch, den Berg runter. Schaue sämtliche Gefährte ob Autos, Traktoren oder Lastwagen flehentlich an, keiner hält.
Ich laufe bergab auf die Gustave Eiffel Brücke zu. Es ist ein steiniger und sandiger Abstieg. Einen Moment bin ich unkonzentriert und schon ist es passiert. Ich stürze, falle auf Ellenbogen, Hand und Hüfte, liege dann wie ein Maikäfer auf dem Rücken. Das Gewicht des Rucksacks hat mich auf den Rücken gedrückt. Ich bleibe einfach liegen, denke ich. Ein Pilgermaikäfer auf dem Weg. Nach kurzem Erstaunen, rapple ich mich auf, suche meine Brille im Sand, sie ist Gott sei Dank noch ganz. Finger verstaucht, Ellbogen blutig aber sonst ist nix passiert.
Die Ponte Eiffel ist in Sicht, im Schneckentempo laufe ich weiter. Die Brücke hört nie auf, 563 lange Meter. Um 17.00 bin ich endlich in meinem Hotel und laufe sofort breitbeinig zum Pool. 24 Kilometer sind geschafft!
Abends lasse ich mich mit dem Taxi zur Basilika Santa Luzia den Berg hochfahren. Es fährt eine historische Zahnradbahn hinauf, ich kann jedoch nicht mal mehr zur Zahnradbahnstation laufen. Mein Abend endet im Restaurant mit Vorspeise, Hauptspeise und Crema Catalana zum Nachtisch. Was für ein Tag!
Boa Noite.
